Sämtliche Texte sind persönlich und dürfen daher nicht kopiert werden !
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LICHT DES SCHATTENS - LIED DER STILLE (copyright Sabine Wirth, 1996)
Die letzten Sonnenstrahlen zwängten sich sanft durch die hohen Baumkronen, während die Nacht schon ihre weiten Flügel auszuspannen schien. In der Ferne sang eine Nachtigall...
Ich hatte mich, müde und erschöpft wie ich war, in das kühle Moos gelegt. Die grossen Tannen umringten mich, so als ob sie mir Schutz bieten wollten. Das Lied des Nachtvogels lockte meine Gedanken in die Ferne, und ich fühlte tief in mir einen Schmerz, denn die Farben der Sonne vermischten sich in einem bunten Meer, das Licht der Welt versank, und das Geheimnis der dunklen, warmen Abendluft legte sich leise und sanft nieder. Ich fühlte mich geborgen und vergass, wo ich war, liess mich tragen von diesem Gefühl, das meine Seele durchflutete.
Zärtlich wurde ich in grossen Schwingen eingebettet. Mein Blick schweifte zum Himmel empor, wo ein weiches Wolkenband lautlos singend schwebte. Ich meinte, die funkelnden Sterne berühren zu können... wie nah mir doch diese Nachtaugen schienen.
Und als ich so dalag und träumte, da hörte ich zum ersten Mal Dein Lied. Die sonst so starren Steine, die schlummernden Blumen, Blätter und Vögel, alle sangen sie mit - Du hast sie erweckt mit Deinen bezaubernden Klängen. Ich lauschte und liess mich auf die Reise schicken.
Mein Körper schwang sich hoch in die Lüfte, flog stolz und zufrieden von Deinem Atem getragen den Sternen entgegen, wo er wieder Kraft geschenkt bekam: Ich fand Deine Liebe und ein ewig junges, farbiges Herz, das hell und zart zu leuchten begann! Wild strudelten meine Gefühle und Gedanken, erfüllt und umgeben von Dir fühlte ich mich wie noch nie zuvor.
Irgendwann später brachtest Du mich auf die Erde zurück. Benommen erhob ich mich und taumelte durch den Wald. Ich glaubte, immer tiefer vorzudringen, fand mich aber bald auf einer vom hellen Morgenlicht durchfluteten Lichtung wieder. Ein Schrei.
Es war mein eigener, der an einer riesigen Felswand widerhallte, die plötzlich vor mir aufgetaucht war. Dann war es still.
Ich schaute an dem Felsen empor und erblickte die Sonne, welche friedlich und liebevoll auf mich herabschaute. Die Welt nahm mich wieder in ihre Arme und trug mich zu einem lustig plätschernden Bach, dessen kühles Wasser meine erhitzte Haut erfrischte. Ich hörte vielerlei Stimmen, denen ich fasziniert lauschte und so kaum bemerkte, wie sie mein brennendes Herz einen tiefen Schlaf sangen.
Und als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, war ich für immer daheim.
Bei Dir.
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ES (copyright Sabine Wirth, 1995)
Es war Samstag, genauer gesagt Samstagabend, und ich war zu Fuss unterwegs. Die Sonne brannte aufs dunkle Pflaster, der sommerliche Geruch nach Blüten und erhitztem Holz und Asphalt stieg mir in die Nase. Nur ein ganz sanftes Lüftlein strich übers Land, sonst war alles unheimlich still. Ich gelangte an den Dorfrand, überquerte ein riesiges Feld und trottete zufrieden gegen den Wald. Nichts und niemand konnte diese schöne Idylle stören...
O nein, bitte nicht, ich wollte doch nicht... doch, es war geschehen. Ich hatte Es unbeabsichtigt zerstört, weil ich in meinen Träumen versunken gewesen war. Es war tot. Ich hatte Es getötet. Es lag da und bewegte sich nicht mehr. Ich wollte um Hilfe rufen, doch das schien sinnlos, niemand konnte mich hier draussen hören, unmöglich. Ich war allein, allein mit meinem Opfer, das da vor mir lag und nicht mehr lebte. Hatte Es denn je gelebt?
Ich war gefangen.
Sollte ich fortrennen? Sollte ich zurückgehen und Hilfe holen? Nein, Es benötigte keine Hilfe mehr, denn Es war tot. Unschuldig getötet. Von mir. Ich war der Täter. War schuldig. Ich fühlte mich elend. Zaudernd versuchte ich, Es zu berühren, doch ich hatte Angst. Die schwarzen Glieder waren verkrampft. Kein Leben mehr. Tot. Sanft fuhr ich mit meinen Fingern über Seinen Körper und zuckte sofort wieder zurück. Ich fror, der Wind begann, stärker zu blasen. Die Bäume schienen sich mir zuzuneigen, sie bogen ihre Kronen hinab und blickten mich böse an. Die Sonne verschwand, es wurde immer dunkler, und ich sass immer noch regungslos da.
Hilfe! Helft mir!
Ich war voller Verzweiflung. Es war voller Tod. Nicht eine Spur von Leben. Es lag einfach da. Ich hatte Angst, Es war doch tot. Weshalb blieb ich also bei Ihm? Ich war unschuldig. Ich wollte weg. Doch meine Beine gehorchten mir nicht. Ich wollte dieses Ding nicht länger anschauen, meine Augen waren aber von Seinem Anblick gefesselt. Noch nie hatte ich Es gesehen, noch nie so, noch nie tot. Doch hatte ich Es getötet, nun war ich Sein Eigentum. Es hatte Macht. Ich konnte Es nicht verlassen, jetzt nicht. Der Wind blies noch immer, aber stärker, und in der Ferne grollte der Donner.
"Bitte lass mich gehen!" Es sagte nichts, gab keine Antwort. Ich blieb.
Ich fühlte, wie sich alles um mich zu drehen begann, die Bäume, die Gräser, die Sträucher und - Es. Es drehte sich und wandte sich. Doch Es war tot! Drehte ich mich? Ich wusste es nicht. Regentropfen fielen. Immer mehr. Es begann in Strömen vom Himmel herunterzuschütten, die Wolken bäumten sich zu riesigen Türmen auf und liessen ihr Wasser auf mich niederprasseln. Auch sie waren böse auf mich. Es regnete, stürmte, blitzte und krachte. Die ganze Welt begann, um mich zu kreisen, und ich wurde über und über nass.
Was sollte ich nur tun?
Auch Es war völlig nass. Eine grosse Wasserlache hatte sich um Es herum gebildet und hob Es in die Höhe. Es wurde davongetragen, und ich eilte Ihm nach, ich sah Es, schwarz wie Es war, im Wasser liegen und weg von mir treiben. "Warte auf mich, ich komme mit Dir!"
Das Wasser riss Es durch den Wald und rauschte bedrohlich. Nur die Bäume schauten diesem Schauspiel zu und schienen belustigt zu sein, ihre Fratzen erschreckten mich. Jedes Mal, wenn ich Es in Reichweite hatte, entriss die Natur mir Es erneut. Meine Augen waren verzweifelt auf Es gerichtet, und der Wald huschte an mir vorbei, heulend und kreischend. Oder war ich es, die schrie? Es bewegte sich tiefer in den Wald, rascher und rascher. Ich hatte mir am Dickicht schon etliche Wunden in die Haut gerissen, es wurde dunkler und kälter, es war grausam.
Wo war Es? Dort drüben - ich taumelte Ihm besessen nach, war gefangen und wollte doch bei Ihm bleiben. Der Wald war stockfinster, und ich blieb kurz stehen, um Es erneut zu suchen, Es, das Schwarze in der Dunkelheit. Kaum sah ich Es, und doch spürte ich seine Anwesenheit stärker als zuvor. Die Jagd ging weiter.
Ich hastete, stürzte, keuchte Ihm nach, der Boden ächzte, und tief aus dem Waldesinnern ertönte ein Ton, ein grässlicher, immer lauter werdender Ton, so, dass meine Ohren schmerzten. Es raste mit einem Wahnsinnstempo auf die Urquelle dieses Brüllens zu, und ich musste mit dorthin. Ich konnte nicht mehr denken, war benommen und wollte wissen, wohin Es gerissen wurde.
Im Wald wütete der Jahrhundertsturm.
Ich befand mich in einem Meer von Schwärze, Kälte und verletzenden Dornen, und alles schrie und kämpfte um sein Leben. Nur Es nicht, denn Es war ja still und tot und liess sich willig mittragen. Ich glaubte aber doch eine Art Angst zu spüren, die Es ausstrahlte. Doch wenn Es wirklich kämpfte, so hatte Es auf jeden Fall keine Möglichkeit, dem Wald zu entrinnen. Wir waren beide Gefangene des Tons, der nun zu einem grellen Schrei angeschwollen war. Meine Ohren barsten beinahe. Dort hinten schrie etwas, irgendetwas, und ich hatte höllische Panik.
Nun war der Ort da, Es wartete bereits.
Die Nacht brach um uns zusammen, fiel auf uns und erdrückte uns beinahe. Ein Loch tat sich im Boden auf, direkt vor mir, und Es wurde hineingesogen. Eine Kraft, wie ich sie bisher für nicht existent gehalten hatte, zog da an Ihm, und Es fiel ... Ich kauerte am Rand, hielt mich an einem grossen Ast fest und starrte hinunter, sah das Schwarze immer tiefer fallen, Es fiel, drehte sich, wurde herumgewirbelt und prallte an den Wänden ab. Breit sperrte die Bodenöffnung ihr Maul auf und sog. Die Kraft wurde grösser. Ein Knall.
Es war unten angekommen. Unten? Ein Schrei. Von wem? Hatte Es geschrieen?
Die Nacht wurde kälter, meine Glieder schmerzten vor Angst und Anstrengung. Langsam schwanden meine Kräfte dahin, und ich fühlte, wie sich mein Griff lockerte, verzweifelt heulte ich, doch meine Finger glitten vom Ast herab. Starr auf Es blickend, begann ich zu schreien.
Die Kraft zog an mir. Ich wollte fliehen, weg, doch Es war stärker. Hatte Es mich gefangen? Oder war Es auch ein Opfer des Lochs, so wie ich? Aber ich hatte Es getötet! Es konnte doch nicht von etwas anderem gefangengenommen werden! Ich war der Erde hilflos ausgeliefert, meine Nägel gruben sich in den Schmutz, doch näher glitt ich dem kühlen Schlund. Es streckte Seine Glieder nach mir aus und stöhnte leise auf, als ich neben Ihm landete.
Es starrte mich an, ohne Augen, Es war tot und klammerte sich an mir fest. Das Loch über uns schloss sich.
Wir wurden vom Himmel getrennt, für immer. Ich und Es, das Ende, dem Tode geweiht und für immer vereint. Das Schwarze liess mich nie mehr los.
Die Erde wurde lockerer, wir rutschten tiefer und fielen ins Unendliche...
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NUR EIN TRAUM ? (copyright Sabine Wirth, 1994)
Ich sass auf einer duftenden Bergwiese, atmete ruhig die frische Luft ein und starrte in die Ferne. Weisse Wolken zogen vorbei, es war warm und gemütlich. Das Gras rauschte, und das kleine Bächlein, welches nahe an mir vorbeiplätscherte, gab glucksende Laute von sich. Ein Schmetterling setzte sich auf die strahlendrote Blume vor mir, ich beobachtete ihn lange und aufmerksam und begann zu träumen...
Der Schmetterling lächelt mich an. Lächelt? Ja, wirklich, seine Mundwinkelchen heben sich, seine kleinen Augen glänzen fröhlich, und er beginnt zu lachen. Lacht er über mich? "Worüber lachst Du?" frage ich ihn leicht verunsichert. "Du hast da einige Blütenpollen auf Deiner Nasenspitze und das sieht so süss aus...", er bricht seinen Satz unter Lachtränen ab, hält sich sein dickes braunes Bäuchlein und flattert wild auf und ab. "Ja und?" "Na, fühlst Du denn nichts Besonderes vorgehen? Die Blume, von der diese Pollen stammen, ist ja ... eine ... Zauberblume!" Der kleine Schmetterling purzelt vor lauter Lachen von der purpurroten Blüte herunter. Verwirrt betrachte ich mich und entdecke mit Erstaunen, dass mein Bauch ganz braungrün schimmert und dass anstelle meiner beiden Arme zwei in allen Farben schillernde Flügel ganz ungeduldig flattern. Tatsächlich: ich habe mich in einen Schmetterling verwandelt! "Willst Du noch lange warten oder bist Du endlich zum Fliegen bereit? Komm mit, es ist wirklich ein Kinderspiel. Folge mir." Mein kleiner Freund hebt mit diesen Worten bereits ab und fliegt davon. Ich versuche sofort, es ihm nachzumachen und: meine Flügel funktionieren tatsächlich. Freudig erstaunt über meinen Erfolg flattere ich ihm nach. Wir überqueren riesige Blumenfelder, grosse, dunkle Täler und im Sonnenlicht glitzernde Bäche. Die Welt erstrahlt in einem noch nie gesehenen Licht, voller Farbenpracht und Energie. Fliegen, sein, geniessen, leben. Und nach einem wunderbaren Flug und einem Gefühl von glanzvollem, bisher mir noch unbekannten Dasein gelangen wir so zu einer Lichtung inmitten eines grossen Waldes. Wir lassen unsere kleinen Körper auf einer tiefblauen Blume nieder, und ich atme natürlich erstmals schwer, denn ich bin schon recht erschöpft von meinem ersten Flug. Doch mein kleiner Freund lobt mich: "Du bist geflogen wie ein richtiger Schmetterling!" Stolz lächle ich, doch im nächsten Moment bin ich dann auch gerade wieder etwas traurig, da ich doch so gerne all meine Menschenfreunde dabeihätte. Der kleine Luftsegler merkt sofort, dass mein Herz betrübt ist, und legt seine Stirn in Falten. "Wenn Du Deine Freunde mitfliegen lassen willst ... das liesse sich schon einrichten, wenn sie auch so glauben können wie Du. Denn nur wer mit einem reinen und offenen Herzen träumen kann, ist fähig in unsere Welt einzutauchen. Die rote Zauberblume und ihre Schwester, diese blaue hier, haben nur Kraft, Menschen zu uns zu holen mit wirklicher Phantasie und kreativen, schönen Gedanken in sich." Ich bin überglücklich, zu diesen Menschen mit farbigen Herzen gehören zu dürfen, das ist ja wirklich ein sehr schönes Kompliment. "Doch wie kann ich wieder in die andere, reale Welt zurückgelangen, um allen von meinem unfassbaren Glück zu erzählen? "Nichts einfacher als das: Klettere auf den Rand der blauen Pflanze, glaube fest an das, was Du Dir wünschst, und lass Dich dann mit diesen Gedanken im Kopf in die Blütenmitte fallen. So wirst Du vom Zauber der roten Blume befreit. "Wir verabschieden uns mit einem freundschaftlichen zweimaligen Flügelschlagen, und ich verspreche meinem kleinen, lieben Freund, so bald wie nur möglich wiederzukommen. Leise höre ich ihn noch 'auf Wiedersehen' rufen, während ich mich bereits daran mache, mich zu konzentrieren und dann vom Rand der Blume hinunterzuspringen. Und im nächsten Augenblick spüre ich die zarten blauen Blütenpollen an meinen Flügeln entlangstreifen, die Farben um mich herum werden undeutlich, meine Glieder fühlen sich ganz sanft und weich an, mir wird schwindelig. Ich falle, wie eine Feder, tiefer und tiefer...
Es war wieder angenehm warm und sehr, sehr ruhig. Ich lag auf derselben Wiese, und die Sonne stand bereits sehr tief. Ich rieb meine Augen. Hatte ich all dies etwa nur geträumt? Sofort rappelte ich mich auf und eilte den Berg hinunter, in die Stadt, um meinen Freunden meine so unglaubliche Geschichte zu erzählen. Und noch am selben Tag stiegen wir alle gemeinsam erneut hinauf, da sie natürlich wissen wollten, ob ich die Wahrheit gesagt hatte. Doch als wir auf die grosse Wiese gelangten, merkte ich, dass die Suche nach den beiden Zauberblumen offensichtlich vergeblich war: wir konnten sie beim besten Willen nicht mehr finden ! Meine Freunde wollten mir zwar glauben, doch irgendwie bekam ich das Gefühl, dass sie alle sicher meinen mussten, ich sei eine unverbesserliche Träumerin. Und sie wollten nach einigen Stunden sinnloser Suche dann auch schon wieder aufbrechen, da es bereits dunkel geworden war. Ich war traurig und sehr enttäuscht, nur widerwillig trottete ich ihnen nach. Gedankenversunken wie ich war, stolperte ich aber über einen Stein und fiel hin. Mühsam erhob ich mich und wischte über meinen Rock, als sich ein ganz bunter Schmetterling auf mein leicht zerschundenes Knie setzte und freudig mit seinen winzigen Flügeln zu schlagen begann. Ungläubig starrte ich ihn an.
Er blinzelte mir zu...
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GEMEINSAM TRAEUMEN (copyright Sabine Wirth, 1996)
Du liegst neben mir und ich halte Deine Hand, ganz fest. Wir schließen die Augen ... und ein wunderbares Bild erscheint am Horizont:
Eine riesige, warme Sonne erstrahlt vor meiner Gedankenwelt.Bevor ich sie auch genauer betrachten kann, öffnen sich aber wie von selbst zwei Tore. Doch es scheint nur so, denn aus dem dichten, heißen Gelb erhebt sich ein magisch helles und ruhiges Licht aus der Tiefe des Feuerballs. Ich fühle, dass aus diesem Weiß etwas sehr Gutes, Friedliches zu uns kommen will. Und schon im nächsten Moment rauscht ein blaugrüner Strom unzähliger Frühlingsblumen der Sonne hinweg direkt zu unseren Herzen. Glück und Liebe füllen uns; ich spüre, dass nun alles gut wird. Eine Raupe hat sich verpuppt und entschlüpft nun in ein neues, noch farbigeres Wesen. Das Rauschen des duftenden Blütenmeeres geht in ein sanftes Plätschern über...
Wir haben neue Energie getankt. Als ob Du mein inneres Bild verstanden und ebenfalls gesehen hättest, drückst Du als Zeichen zärtlich meine Hand, Deine Augen strahlen und lächeln. Auch mein Herz, denn es liebt Dich über alles. Danke, dass es Dich gibt.
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FLIEGEN (copyright Sabine Wirth, 1996)
Vögel zwitscherten es in mein Ohr, als ich am Wegesrand saß und verträumt die sanftweißen Wolken betrachtete, die am winterblauen Himmel entlangzogen. "Auch du kannst fliegen," flüsterten sie mir leise zu. "Versuch es, und Du wirst sehen und spüren, wie frei und grenzenlos wir leben." Ich lachte verlegen. "Ihr macht Euch über mich lustig. Ich weiß ganz bestimmt, dass ich nie fliegen lernen kann. Ohne Flügel ist es unmöglich." Die Vögel nickten. "Du hast recht", sprach derjenige mit den hellsten und leuchtendsten Farben unter ihnen, "aber müssen denn Flügel unbedingt aus Federn sein? Können nicht auch Gedanken allein uns wie große Schwingen tragen und in die Lüfte emporheben? Du allein bist es, die Dir ein Gitter vor die Nase hält und jammert, eingekerkert zu sein." "Stimmt nicht. Es ist bewiesen, dass Menschen nicht fliegen können. Weshalb sollte ich meine Zeit damit verschwenden, Euch zuzuhören?" Der helle Vogel, der ihr Anführer zu sein schien, trat näher an mich heran und schaute mir tief in die Augen. "Die Welt wird nicht schwarz, wenn Du Deine Augen schließt, denn Deine Fantasie sieht weiter. Du stirbst nicht, wenn Du einschläfst, Du lebst nur in einer anderen Welt. Genauso verhält es sich mit dem Fliegen: Wenn Du glaubst, dass Du nicht fliegen kannst, dann irrst Du Dich. Du wirst es lernen. Vertraue Deinen Träumen, übe, mit Deinen Gedanken auf Reisen zu gehen, mit den Vögeln über sonnige Felder zu ziehen und mit den Wolken zu gleiten. Die Zeit wird kommen, dass Du Dinge erleben wirst, die Dein Herz bis anhin nicht einmal zu träumen gewagt hat. In den Himmel einzutauchen, ist nicht schwierig. Sag nicht, es sei unmöglich, sondern beginne mit dem, was Dir möglich erscheint. Der Weg, den Du dann noch gehen musst, wird sehr klein sein. Es liegt nur an Dir, Du musst nur endlich aufhören, Dir selbst Schranken zu bauen. Niemand kann Dir helfen, diese Hindernisse zu entfernen. Nur Du. Die Welt liegt vor Dir, Du darfst sie nach Deinen Wünschen und Ideen neu gestalten. Glaub daran, denn was ich sage, ist wahr!" Mit diesen Worten schwang sich der Vogel in die Luft, und seine Kameraden folgten ihm. Wie ein kleines Kind schaute ich dem hellen Schwarm noch lange nach. Ich war verwirrt. Hatten die Vögel die Wahrheit gesprochen? Ich wusste mir keine Antwort zu geben. Ich blieb den ganzen Morgen sitzen, meine Augen geschlossen, und versuchte, in Gedanken über ein stilles, glänzendes Meer auf die Sonne zuzufliegen. Nie werde ich dieses Gefühl vergessen. Und ab und zu ertappe ich mich, wie ich des nachts zufällig aufwache und mich unscharf an die schönsten Regenbogen, die grünsten Hügel und die schillerndsten Seen erinnere.
Kann ich schon fliegen ?
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RAUSCHEN DES MEERES (copyright Sabine Wirth, 1996)
Das Herz des kleinen Mädchens pochte heftig. Angst. Erschrocken kauerte es hinter einem Felsen, der nur wenige Meter vom Wasser entfernt aus dem Sand ragte. Wie gerne wäre es in den schäumenden Wellen, die im Sonnenlicht funkelten, baden gegangen, doch jedes Mal entfloh es dem Wasser sofort, wenn es sein verzerrtes Spiegelbild darin erkannte. Mit Tränen in den Augen begann es, wie schon so oft, an die kostbaren Perlen der Muscheln, den farbigen Regenbogen des Himmels, die Blätter der Bäume, den Duft der Blumen und die Flügel des lustigen Schmetterlings zu denken - mit ihnen konnte es sich nicht messen. Leere und Scham füllten sein Herz, unzufrieden versteckte es sich vor den Augen der Welt, und von Tag zu Nacht wurde es unglücklicher. An jenem Morgen wurde es erneut von seinem Wunsch geweckt, dem Wunsch, im Wasser des Meeres zu baden, um seine innere Angst vor sich selbst darin wegzuwaschen. Es hatte es satt, seine Fehler über die Freude herrschen zu lassen. Es wollte endlich so sein, wie es in der Tiefe des Herzens war, wollte lernen, sich selbst in vollen Zügen zu geniessen und zu leben. Wie es nun so hinter dem kleinen Felsen hockte und zweifelte, flog ein Schwarm weissblauer Vögel heran, setzte sich auf den Sand und schaute es an. Langsam erhob sich das Mädchen und schritt vorsichtig dem Wasser zu. Die Vögel trappelten zur Seite, einige flogen hoch auf und kreisten kreischend über dem Ufer. Das Mädchen netzte seine Füsse und wagte sich neugierig weiter hinaus, seine Augen presste es ganz fest zu. Ein sanftes Kribbeln an seinem Bauch liess es sie öffnen, und es erkannte im Wasser Tausende kleiner Fische, die es übermütig umschwammen. Als es sich tiefer beugte, um die glänzenden Fischlein besser sehen zu können, da glättete sich das Meer und zeigte ihm ein wunderschönes Antlitz, das immer strahlender und farbiger wurde. Erschrocken schaute das Mädchen hinter sich, konnte aber kein anderes menschliches Wesen entdecken. In diesem Moment spürte es, dass dieses schöne Gesicht sein eigenes sein musste, und es umarmte sich vor Glück und liess sich rücklings ins warme Nass fallen. Die Fische und Vögel sammelten sich und trugen es über alle Meere und Lüfte. Es war befreit. Das Mädchen lachte, denn es war nicht perfekt, fühlte sich aber schön und unendlich reich. Endlich hatte es gelernt, seine eigene, einzigartige Schönheit sehen, fühlen und lieben zu können.
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